Das weinende Auge

 
Ich war eine Hausgeburt, wurde von meiner Mutter in meinem Elternhaus zur Welt gebracht. Mein Geburtstag war der 27. Januar 1957. Mein Elternhaus steht in einem kleinen Dorf, das um die 300 Einwohner hat. Das Dorf heißt Schaffhausen im Sauerland. Seit meiner Geburt wohne und lebe ich in meinem Elternhaus in unserem kleinen Dorf. Demnach bin ich ein alteingesessener Einheimischer. Meine Vorfahren stammen von hier. Meine Familie ist also schon eine alteingesessene, einheimische Familie. Und doch ist meine Situation eine ganz andere. Ich fühle mich wie ein Fremder, weil ich wie ein Fremder behandelt werde. Diese Ausdrucksweise ist eher noch zu positiv. Einen Fremden würde man besser behandeln. Man behandelt mich wie einen, der gar nicht existiert, wie einen, der schon 30 Jahre tot ist. Am besten formuliere ich es so: Man meidet mich dermaßen total, wie man einen an Ebola erkrankten Menschen meiden würde. Man stelle sich vor, ich wäre an Ebola erkrankt, einer hochansteckenden, tödlichen Krankheit, und alle hätten Angst, sie könnten sich bei mir anstecken. Das ist meine Situation hier im kleinen Dorf und in den um unser Dorf gelegenen Ortschaften.
Meine soziale Situation war nicht plötzlich von einem Tag auf den anderen so, wie sie jetzt ist. Sie hat sich im Laufe der Jahrzehnte so entwickelt und zugespitzt. Zurzeit befinden sich die Menschen meines Umfelds mit mir im kalten Krieg. Der kalte Krieg ist das Beste, das für mich möglich ist. Besser kann meine Lage nicht mehr werden. Kalter Krieg herrscht im Verhältnis zu mir schon seit Jahrzehnten. Doch gab es zwischendurch auch immer wieder Phasen des heißen Kriegs. Der heiße Krieg entsteht dann, wenn ich am kalten Krieg, in dem ich behandelt werde wie ein an Ebola Erkrankter oder wie jemand, der schon dreißig Jahre tot ist oder wie ein Schwerverbrecher, fast zugrunde gehe und auf spektakuläre, für die hiesigen Verhältnisse skandalöse Art und Weise, auf mich aufmerksam mache und damit sagen will: „Leute, ich bin nicht vor dreißig Jahren gestorben, sondern ich lebe noch, bin noch da, mitten unter euch!“
Lieber Leser/liebe Leserin, wenn Du die Leute meiner Umgebung fragst: "Warum hat denn der Mann keine Freunde und warum hilft denn dem armen Kerl niemand? Er hat doch nichts verbrochen! Warum interessiert sich denn niemand für seine Bücher? Würde man seine Bücher lesen, könnte man ihn verstehen und ihm damit helfen. Das ist doch unmenschlich, einen Menschen, der niemandem wirklich etwas angetan hat, einzumauern! Warum reißt man die Mauern denn nicht ein und tritt mit ihm in Kommunikation, zum Beispiel indem die dafür zuständigen Leute auf seine Literatur aufmerksam machen?",- dann wirst Du vermutlich diese Antwort erhalten: "Dass es dem so ergeht, ist der alles selbst schuld. Der hat seine Mauern selber um sich gebaut! Der ist so Einer und mit so Einem gibt man sich nicht ab!" Daraufhin wirst Du entgegnen: "Das ist ja gar nicht wahr! Der Mann hat keine Mauern gebaut. Das zeigt er ganz offensichtlich und ganz klar. Er macht doch groß und allen sichtbar darauf aufmerksam, dass er in Kontakt treten will und dass er sich nach Interesse und Zuwendung sehnt. Warum sonst hat er seine Autowerbung und seine Werbetafeln? Er schreit auf legale Art nach verstehender Liebe. Und welche Schuld meint man denn? Er ist strafrechtlich ein weißes Blatt, rein wie eine Blüte. Als nächstes komme ich zu dem Ausdruck "so Einer". Was soll denn das sein, "so Einer"? Was meint man denn mit "so Einem". Er hat nichts auf dem Kerbholz. Er ist psychisch krank. Krank zu sein, ist doch kein Verbrechen! Im Gegenteil, es ist ein Verbrechen, einen psychisch Kranken wie einen Verbrecher zu behandeln! Psychisch Kranke sind keine Verrückten, keine geistig Behinderten und keine Kriminellen. Sie sind an ihrer Seele erkrankte Menschen. Die Gründe für ihre Erkrankung liegen im menschenunwürdigen Verhalten, mit dem ihnen ihre Mitmenschen begegnen. Im "Fall Peter Schwarz" ist es jedenfalls so. Herr Schwarz belegt es doch in seinen literarischen Ausführungen. Warum ist er denn psychisch krank? Wegen der Mauer um ihn ist er krank. Doch nicht er baut die Mauer, sondern ihr! Darum könnt auch nur ihr eure Mauer abreißen. Das steht nur in eurer Macht, nicht in seiner, denn nur diejenigen, die Mauern bauen, können sie auch wieder einreißen. Habt ihr kein Herz, sondern stattdessen einen Stein in der Brust? Ihr seid grausame, herzlose Menschen!"
Lieber Leser/liebe Leserin, Du kannst vorbringen und argumentieren, soviel und wie Du willst, es wird nichts nützen. Ich kann schreiben, soviel und wie ich will, es wird nichts bringen. Wir werden nicht einmal zur Kenntnis genommen. Die Kälte wird bleiben und die Mauer auch. Unser Dorf hat 321 Einwohner. Von diesen 321 Einwohnern stehe ich im Rang auf Platz 321. Wenn man könnte, würde man Platz 321 ganz aus dem Dorf entfernen. Ich wiederhole: Doch dies ist aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Deshalb ist man gezwungen, mich und meine Anwesenheit widerwillig zu dulden. Somit habe ich meinen Stand und meine Situation realistisch dargestellt. Damit muss ich leben. Das ist schwer, fast unmöglich. Es war alles noch viel schlimmer, als ich nicht ausdrücken und nicht mitteilen konnte, was in mir vorgeht. Inzwischen kann ich schreiben, wie es in mir aussieht. Das ist der große Fortschritt, den ich gemacht habe. Das ist das Positive daran. Aber das Negative kommt sofort hinterher: Niemand will meine Bücher lesen. Ich dachte, es müsste doch interessant sein, von einem psychisch Kranken lesen zu können, wie er denkt, fühlt, empfindet und wünscht. Ich war der Meinung, es wäre für die Leute interessant, von einem selbst Betroffenen über das Innenleben eines psychisch Kranken lesen zu können. Da muss ich mich wohl geirrt haben. Es interessiert niemanden, nicht einmal die psychisch Kranken. Dass es niemanden interessiert, darunter leide ich, das ist mein Leiden. Was nützt es, wenn man Bücher schreibt, die niemanden interessieren? Mein psychisches Leiden ist also mittlerweile ein soziales und literarisches Leiden geworden. Mein Leiden ist nicht sinnlos, es hat einen Sinn. Das Schreiben über mein Leiden heilt mich und vermittelt auch dem Leser, wenn es ihn denn gäbe, aufklärende und heilsame Einsichten in Geschehnisse und Zusammenhänge, die ihm vor dem Lesen nicht bewusst waren. Dieser Prozess findet keinen Abschluss, an dem die endgültige Heilung geschafft wäre, sondern er beginnt immer wieder von vorn mit dem Leiden, das ich immer wieder aufs Neue durcharbeiten muss. Damit habe ich es auf den Punkt gebracht: Ich muss leiden, um darüber schreiben zu können. Das ist mein Schicksal. Darin besteht der Sinn meines Leidens. Und in diesem Sinn schreibe ich weiter. Mit einem Auge weine ich.